In Folge 19 unseres Podcasts D wie Digital haben wir mit Roomet Sõrmus gesprochen. Hier könnt ihr die Folge nachhören.

DiFü-News: Herr Sõrmus, in Estland kann man 99 Prozent der Verwaltungsvorgänge digital erledigen. Wie funktioniert das?

Roomet Sõrmus: In Estland sind die staatlichen digitalen Dienstleistungen mittlerweile eine Selbstverständlichkeit geworden. Wir erwarten von unserem Staat, dass wir praktisch alles digital erledigen können – und das wird auch angeboten. Das bedeutet nicht immer speziell designte Dienstleistungen: Schon dadurch, dass wir eine digitale Unterschrift haben, können wir digital unterschriebene Papiere rechtsgültig per E-Mail verschicken. Unser Gesundheitssystem ist auch schon sehr digital. Wenn ich zum Beispiel ein Rezept bekomme, muss ich nur mit meiner ID-Karte zur Apotheke gehen. Die wissen dann, welches Medikament ich verschrieben bekommen habe und können mir das einfach geben.  

Roomet Sõrmus Wirtschaftsattaché der Republik Estland

DiFü-News: Du hast die digitale Unterschrift erwähnt, wie funktioniert das? Haben alle ein Pad für die Unterschrift zuhause oder unterschreibt man einmal und dann ist das für immer gültig?

Roomet Sõrmus: Es gibt im estnischen E-Staat einige wichtige Bausteine. Einer davon ist unsere digitale ID-Karte, die vor mehr als 20 Jahren eingeführt wurde. Das ist ein Ausweis mit Chip. Auf diesem Chip sind alle Basisdaten gespeichert. Mittlerweile gibt es auch andere Lösungen, weil das mit Karte und Kartenleser unterwegs etwas umständlich sein kann. Zum Beispiel die Mobil-ID. Das sind spezielle Smart-SIM-Karten für ein Handy. Das ist keine Unterschrift, wie man sie sich normalerweise vorstellt, sondern eine technische Unterschrift, die rechtlich überall anerkannt wird.

DiFü-News: Estland war ja nicht immer digital. Wie ist der Prozess hin zur digitalen Verwaltung abgelaufen?  

Roomet Sõrmus: Am wichtigsten ist, dass der politische Wille und IT-Grundkenntnisse früh vorhanden waren. Estland hat in dem Sinne nicht von Null angefangen. Seit den 1960er Jahren gab es das Kybernetik-Institut der Sowjetunion. Damit gab es auch schon viele Personen, die Ahnung von digitalen Vorgängen und Digitalisierung hatten.

Als Estland dann Anfang der 1990er-Jahre unabhängig wurde, gab es viele praktische Gründe, warum wir uns aktiv für die Digitalisierung entschieden haben: Estland ist flächenmäßig größer als Dänemark oder die Schweiz, aber es ist sehr dünn besiedelt. Wir haben mit 1,3 Millionen Menschen relativ wenig Einwohner:innen. Die Entfernungen sind in Bezug auf Behördengänge schon eine Herausforderung. In diesem Sinne haben wir aus der Not heraus angefangen, digitale Dienste anzubieten.

Zuerst mussten rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden und Grundprinzipien festgelegt werden. Zum Beispiel dürfen wir in Estland in den Behörden keine Datensätze aufbauen. Ende der 1990er, Anfang der 2000er-Jahre wurde dann eine estnische E-Regierung eingeführt. Das muss man sich so vorstellen, dass das Kabinett papierlos gearbeitet hat.

DiFü-News: Und all das passierte schon vor über 20 Jahren?  

Roomet Sõrmus: Ja. Ein weiteres wichtiges Ereignis war 2001 als die sogenannte X-Road eingeführt wurde. Das ist eine verschlüsselte Datenautobahn, die ermöglicht, dass Daten zwischen Behörden ausgetauscht werden können. Und auch unsere digitale ID-Karte und die Möglichkeit der digitalen Unterschrift wurden 2002 geschaffen. Das sind die wichtigsten Bausteine, wenn wir über die Digitalisierung in Estland sprechen.

DiFü-News: Welche Herausforderungen gab es denn in diesem Digitalisierungsprozess – und welche gibt es noch heute?

Roomet Sõrmus: Der Prozess mag im Nachhinein einfach klingen, war es aber sicherlich nicht. Digitalisierung hängt von vielen Faktoren ab: Zuerst muss man überhaupt Zugang zum Internet haben. Estland ist, wie bereits erwähnt, ein dünn besiedeltes Land. Da ist es bereits eine Herausforderung, dass es überall eine Breitband-Verbindung gibt. Es gab damals gezielte Programme, dass Schulen mit Computern ausgestattet wurden und dann IT-Unterricht bekamen.

DiFü-News: Das heißt, die Lehrer:innen und Schüler:innen wurden mit Computern ausgestattet?

Roomet Sõrmus: Nicht alle Schüler:innen haben einen Computer bekommen, aber es gab überhaupt Computer in Schulen. 25 Jahre später kann man sich das nicht mehr so gut vorstellen, aber ich erinnere mich noch: Als ich 1997 zur Uni gegangen bin, war das eine große Sache. Ich habe eine E-Mail-Adresse bekommen und konnte sie nur in der Computerklasse nutzen, weil ich zu Hause keinen eigenen Computer hatte.  

Estland hat auch den Zugang zum Internet zu einem Grundrecht erklärt, deshalb wurden in Bibliotheken und anderen öffentlichen Gebäuden Zugänge eingerichtet. Diese infrastrukturelle Herausforderung war wahrscheinlich eine der bedeutendsten, genau wie die digitale Kluft – dass damals wie heute nicht alle Menschen gleichermaßen fähig sind, mit dem Internet umzugehen. In Estland wurden schon früh und gezielt Kurse für eine breite Öffentlichkeit angeboten.

DiFü-News: Also einerseits wurde die Infrastruktur angelegt, andererseits wurde der Bevölkerung die Möglichkeit gegeben, diese Infrastruktur – die PCs und das Internet – auch richtig zu nutzen?

Roomet Sõrmus: Genau. Und natürlich geht es auch um Sicherheit und Datenschutz. Das wird hier in Deutschland auch heiß diskutiert. Es geht schließlich um persönliche Daten, die auf dem höchsten Niveau geschützt werden müssen. In den vergangenen 25 Jahren gab es natürlich auch Cyber-Angriffe. Das ist eine Herausforderung, die auch bleiben wird. 2007 gab es Unruhen in Tallinn, sowohl auf der Straße als auch in Form von großen Cyber-Attacken auf die estnische Verwaltung. Das hat uns deutlich gemacht, dass wir in diesen Bereich viel investieren müssen. Deshalb ist Estland in Bezug auf IT-Sicherheit heute gut aufgestellt.

DiFü-News: Wie kam es dazu, dass Estland so eine Vorreiterrolle einnahm? Einige Gründe hast du bereits erwähnt. Gibt es noch andere Gründe?

Roomet Sõrmus: Ich denke, weil wir von Anfang an einen Ansatz gewählt haben, der sehr bürgernah ist. Die Frage ist: Wie kann man das Leben einfacher machen? Wir sind noch nicht zu 100 Prozent zufrieden mit unserem System oder den Dienstleistungen, weil wir immer höhere Anforderungen haben. Die Bürger:innen fordern es streng ein, dass die Dienstleistungen sehr gut sind. Ich denke auch, dass wichtig ist, dass die estnische Regierung immer sehr aufgeschlossen war, mit der Privatwirtschaft zu kooperieren.

Außerdem ist Transparenz sehr wichtig. Wir haben ein Staatsportal, in dem ich nachverfolgen kann, wer meine Daten angefragt hat. Es gibt zum Beispiel ein öffentliches Verkehrsticketsystem, das für Bürger:innen in Tallin kostenlos ist. Diese Firma muss dann wissen, ob ich wirklich in Tallin wohne – aber nicht, wo genau in welcher Straße ich lebe. 

DiFü-News: Wenn du siehst, dass ein Amt etwas über dich abfragt, kannst du dann auch nach den Gründen dafür fragen?

Roomet Sõrmus: Ja, das kann ich. Darum geht es – dass man die Kontrolle darüber hat, dass die eigenen Daten nicht wild durchwühlt werden. Im Rahmen von E-Health beispielsweise werden Daten zu Krankheiten, Medikamenten etc. gespeichert. Es ist gut und richtig, wenn meine behandelnde Ärztin darauf Zugriff hat, aber andere Ärzte müssen nicht unbedingt alles wissen. Deswegen kann man immer nachfragen, wenn man merkt, dass es eine Aktivität gab, die nicht ganz klar ist.  

DiFü-News: Was braucht man noch, um die E-Dienstleistungen nutzen zu können?

Roomet Sõrmus: Eigentlich nur Endgeräte wie Handy oder Computer, man braucht keine speziellen Geräte, um am digitalen Staat teilnehmen zu können.

DiFü-News: Das heißt, man muss sich auch nicht extra anmelden für diese Dienste? Meinen letzten Personalausweis in Deutschland habe ich 2016 beantragt und damals musste ich die Online-Funktion extra aktivieren. Ist das in Estland schon automatisch?

Roomet Sõrmus: Das ist der entscheidende Punkt, dass das bei uns automatisch freigeschaltet wird. Am Anfang musste man auch Anreize schaffen – zum Beispiel, dass man, wenn man etwas online beantragt, weniger Gebühren zahlen muss. Es gab auch eine Kampagne zum Thema E-Steuererklärung: Wer die Steuererklärung online einreicht, bekommt Erstattungen früher als jemand, der das auf Papier macht. Mittlerweile werden fast 98 Prozent der Steuererklärungen online eingereicht. Wir sind auch sehr stolz drauf, dass die E-Steuererklärung im Durchschnitt nur drei Minuten dauert.

DiFü-News: Eine Frage habe ich noch zum Abschluss: Wie hält man eine digitale Verwaltung, die jetzt knapp 25 Jahre alt ist, gut am Laufen?

Roomet Sõrmus: Man braucht natürlich ständig Investitionen. Es ist nicht so, dass man das einmal gut einrichtet und dann ist es fertig. Man muss kontinuierlich investieren, weil die Cyber-Risiken zunehmen. Da hat Estland sich gute Lösungen einfallen lassen. Wir haben zum Beispiel eine Daten-Botschaft in Luxemburg. Dort liegen die kritischen Daten und wichtige Server. Sollte es also eine Cyber-Attacke geben, dann sind wir und unsere Daten abgesichert.  

Eine weitere Herausforderung ist, dass Bürger:innen bessere digitale Dienstleistungen verlangen. Aktuell wird viel über künstliche Intelligenz gesprochen und darüber, wie man sie einsetzt. In Estland gibt es schon seit einigen Jahren Projekte, bei denen wir auch in der öffentlichen Verwaltung versuchen, Dienstleistungen mit KI besser zu gestalten. Ein heißes Thema sind „proaktive Dienstleistungen“. Dass Bürger:innen also nicht selbst nachfragen müssen, sondern dass der Staat das, worauf man ein Recht hat, direkt anbietet.

Ein Beispiel dafür ist das Kindergeld. Wenn das Kind geboren wird, bekommt es einen Personencode. Dann hat man im Prinzip schon ein Anrecht auf Kindergeld. Die Eltern müssen das nicht selbst beantragen, sondern der Staat macht das proaktiv. Es gibt auch Fälle, in denen man rechtzeitig benachrichtigt wird, wenn der Pass abläuft.

DiFü-News: Damit man nicht erst am Flughafen merkt: Oh, der gilt nicht mehr.

Roomet Sõrmus: Genau. Dass der Staat also proaktiv benachrichtigt, sobald irgendwas ansteht. Die neue Regierung hat auch das Thema „personalisierter Staat“ auf der Agenda: dass man die Bedürfnisse der Bürger:innen besser kennt und sie unterstützt. Das ist nicht nur eine politische, sondern auch eine philosophische Frage.

DiFü-News: Dazu müsste man dann aber die Daten noch einmal speziell auswerten, um sie auf die Bedürfnisse der Bürger:innen zuzuschneiden?  

Roomet Sõrmus: Es ist ja so, dass der Staat schon viele Daten hat, nicht nur in Estland. In Deutschland gibt es ja auch viele Daten über Bürger:innen, man muss sie nur miteinander verknüpfen. Wir nennen das „Lebensereignis-basierte-Dienstleistungen“. Wenn etwas im Leben der Bürger:innen passiert, gibt es digitale Unterstützung. Ist ein Kind schulpflichtig? Dann werden drei Schulen in der Nähe vorgeschlagen, zum Beispiel.  

DiFü-News: Das ist spannend. Gibt es noch etwas, was du unserem Publikum mitgeben möchtest?

Roomet Sõrmus: Ich kann mir mein Leben kaum mehr ohne diese digitalen rechtsgültigen Unterschriften vorstellen. Früher hätte ich jeden Tag 20-mal irgendwo unterschreiben müssen, mit Papier ist das schon zeit- und ressourcenaufwändig. In diesem Sinne ist die digitale Unterschrift eine Wunderwaffe, die das Leben sehr viel einfacher macht: Ich arbeite in der estnischen Botschaft und bin Teil des Staates – aber ich kann mein estnisches Leben regeln, ohne in Estland zu sein. 

DiFü-News: Vielen Dank für das spannende Gespräch!

Gesprächspartner in dieser Folge von „D wie Digital“: Roomet Sõrmus Wirtschaftsattaché der Republik Estland

Artikelbild: Štefan Štefančík via unsplash.com