2024 ist Nachhaltigkeit für Unternehmen längst ein Muss – aus einer Vielfalt an Gründen: um die eigene Geschäftsgrundlage abzusichern, um Mitarbeitende zu binden, Kund:innen zu überzeugen oder neue Geschäftsfelder zu erschließen. Die damit verbundenen Chancen und Risiken sind mittlerweile recht bekannt. Jedenfalls, wenn es um Nachhaltigkeit in der analogen Welt geht, ist klar: Wer etwas produziert, weiterverarbeitet oder nutzt, kann sich in verschiedenen Bereichen für mehr Nachhaltigkeit einsetzen. Doch was ist mit der Digitalisierung? Wie kann und muss man sie verantwortungsvoll und nachhaltig umsetzen?

Hier kommt „CDR“ ins Spiel, Corporate Digital Responsibility. Für viele ist CDR noch unbekanntes Terrain. Wir sprechen deshalb mit Dr. Frank Esselmann von der CDR-Initiative über digitale Verantwortung von Unternehmen.

Dr. Frank Esselmann, Partner der concern GmbH. Er begleitet seit Ende 2019 die Arbeit der CDR-Initiative, u. a. mit der Entwicklung des CDR-Kodex.
Seit Januar 2023 verantwortet er gemeinsam mit dem Konsortialpartner ConPolicy die Arbeit der Geschäftsstelle der CDR-Initiative, die sich maßgeblich für die inhaltliche Weiterentwicklung und die wirkungsvolle Verankerung von CDR im Markt einsetzt.

DiFü-News: Frank, was ist CDR eigentlich? Kannst du uns eine Definition geben?

Dr. Frank Esselmann: Ganz allgemein formuliert ist CDR die Unternehmensverantwortung im Zeitalter der digitalen Transformation. Aber eine einheitliche operativere Definition, was alles darunter zu verstehen ist, gibt es nicht. Das Feld ist so vielfältig und dynamisch. Aber es gibt gute Frameworks, wie etwa die Handlungsfelder der CDR-Initiative und den dort formulierten CDR-Kodex oder die „CDR Building Bloxx“ des BVDW, um sich dem Thema anzunähern. Zu CDR gehören die Auswirkungen der Digitalisierung auf alle Aspekte der ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Nachhaltigkeit, wie sie auch über die SDGs (Sustainable Development Goals), die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, thematisiert werden. Darüber hinaus umfasst CDR auch spezifische Aspekte der Digitalisierung und erweitert damit den Verantwortungsbegriff.

Kein Unternehmen, das in einem größeren Umfang Daten verarbeitet, kommt an den Themen des verantwortlichen Umgangs mit diesen vorbei. Dazu gehört z. B. informationelle Selbstbestimmung oder Cybersicherheit.

DiFü-News: Welche Aspekte meinst du damit? Kannst du das noch etwas ausführen?

Dr. Frank Esselmann: Gemeinsam mit dem Ministerium und den Unternehmen der CDR-Initiative haben wir einen Kodex mit neun Prinzipien entwickelt. Eines davon ist zum Beispiel „Nutzen schaffen“. Das bedeutet, dass technische Systeme, die von Verbraucher:innen genutzt werden, auch einen Mehrwert haben und der Nutzen für sie in einem angemessen Verhältnis zu den Risiken steht. Denn Digitalisierung birgt nicht nur Chancen, sondern eben auch Risiken. Diese gilt es abzuwägen und dabei unter anderem Schäden zu vermeiden sowie – das sind weitere Prinzipien – Fairness und Transparenz zu gewährleisten.

Nur wenn sich Unternehmen zu solch fundamentalen Prinzipien verpflichten und diese auch in der Umsetzung leben, können wir den digitalen Wandel so gestalten, dass er den Menschen zuträglich ist.

DiFü-News: Du hast eben auch die Sustainable Development Goals erwähnt, kannst du noch einmal den Zusammenhang zwischen Digitalisierung, Daten und den SDGs skizzieren?

Dr. Frank Esselmann: Mit den SDGs hat die Weltgemeinschaft ja ökologische, soziale und wirtschaftliche Ziele für eine nachhaltige Entwicklung formuliert. In all diesen drei Säulen spielt die Digitalisierung eine wichtige, aber auch ambivalente, Rolle: Sie kann enorm zur Erreichung der Ziele beitragen, sie kann aber auch sehr negativ wirken. Nehmen wir die Ökologie: Digitale Technologien benötigen in der Regel viel Energie und tragen mittlerweile erheblich zum CO2 -Ausstoß bei.Undsie brauchen oft problematische Rohstoffe, zum Beispiel Kobalt. Dieser Rohstoff wird teilweise unter menschenwidrigen Bedingungen abgebaut. Auf der anderen Seite tragen digitale Technologien auch erheblich zu Energieeinsparungen bei, indem mit ihrer Hilfe beispielsweise Prozesse optimiert werden. Das beste Beispiel sind Videokonferenzen, mit denen sich CO2-Emissionen im Vergleich zu Flügen oder Fahrten einsparen lassen.

Noch vielschichtiger sind die Effekte der Digitalisierung bei den wirtschaftlichen und sozialen SDGs: Ob Vermeidung von Armut, Förderung von Gesundheit oder weniger Ungleichheit – keines der Sustainable Development Goals ist ohne einen signifikanten Beitrag der Digitalisierung zu erreichen. Gleichzeitig kennen wir in all diesen Bereichen auch die Negativauswirkungen: Digitale Techniken, die zu Arbeitslosigkeit und damit Armut führen, die Gesundheit schädigen und die Ungleichheit – Stichwort „Digital Divide“ –  verstärken. Die Digitalisierung bringt Lösungen, aber auch eigene Gefahren mit sich.  

Das vertrackte Verhältnis von Nachhaltigkeit und Digitalisierung lässt sich am prägnantesten vielleicht am Beispiel des Konsums darstellen: Güter zu virtualisieren ist aus ökologischer Sicht oft positiv. Die Digitalisierung vereinfacht außerdem oft den Zugang zu diesen Gütern, was sozial positiv ist. Gleichzeitig entsteht möglicherweise aber auch ein Mehrkonsum, der sich ökologisch negativ auswirken kann. Dieser kann auch zu einer Spaltung der Gesellschaft fördern, z. B. entlang Alter und Einkommen.

DiFü-News: Das klingt, als ob solche Aspekte fast alle Unternehmen betreffen. Wie verbreitet ist denn CDR?

Dr. Frank Esselmann: In den einzelnen Aspekten ist es sehr verbreitet. Kein Unternehmen, das in einem größeren Umfang Daten verarbeitet, kommt an den Themen des verantwortlichen Umgangs mit diesen vorbei. Dazu gehört z. B. informationelle Selbstbestimmung oder Cybersicherheit.  Weit weniger verbreitet ist aber die systematische Auseinandersetzung mit CDR. Die braucht es aber – von der Priorisierung der Themenfelder bis zur Integration in die Managementprozesse. Wer hier nach guten Beispielen sucht, dem empfehle ich einen Blick in die Kodexberichte der Mitgliedsunternehmen der CDR-Initiative. Hier findet sich nicht nur eine Fülle von spannenden Maßnahmen, sondern man bekommt auch einen Eindruck, wie Vorreiterunternehmen das Thema in ihrer eigenen Art prägen.

In den nächsten ein bis zwei Jahren wird sich bei der Verbreitung von CDR aber sehr viel tun: Die Anwendungen von Künstlicher Intelligenz und auch die Regulierung durch den EU AI Act fordern Verantwortlichkeit ein. Unternehmen, die es dann klug machen, werden Digitalverantwortung ganzheitlich und systematisch angehen.

Das betrifft übrigens sowohl B2B- als auch B2C-Geschäftsmodelle – niemand kommt mehr an dem Thema vorbei.

Über die CDR-Initiative

Ziel der CDR-Initiative (‚Corporate Digital Responsibility‘-Initiative) ist es, digitale Verantwortung zu einer Selbstverständlichkeit für Unternehmen aller Branchen werden zu lassen. Ins Leben gerufen wurde die Initiative im Mai 2018 durch das seinerzeitige Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz gemeinsam mit ausgewählten Unternehmen. Durch die Initiative soll die Wirtschaft weiter dazu motiviert werden, die Digitalisierung menschen- und werteorientiert zu gestalten.  Mit fortschreitenden technologischen Entwicklungen bekommt das gemeinsame Lernen, ein zentrales Ziel der Initiative, eine wachsende Bedeutung.

 

Die Mitglieder der Initiative zeichnen sich durch besonderes Engagement im Bereich CDR aus und entwickeln sich in diesem Bereich stetig weiter. Dazu trägt die CDR-Initiative mittlerweile seit fast sechs Jahren als Austausch- und Lernplattform für die Mitgliedsunternehmen bei. So können Unternehmen von dem Perspektivenwechsel und den besonderen Herausforderungen bestimmter Branchen und Organisationsgrößen sowie dem konstruktiven Dialog mit der Politik profitieren.

Seit 2022 ist die Initiative im BMUV verortet. Weitere Informationen zur CDR-Initiative gibt es hier.

DiFü-News: Ist diese Komplexität für Unternehmen überhaupt handhabbar?

Dr. Frank Esselmann: Ja, auf jeden Fall. Hat man erst einmal die Systematik für das eigene Unternehmen entschlüsselt, stellt man in der Regel fest, dass es einige sehr CDR-relevante (-kritische) Prozesse gibt. Auf die kann und sollte man sich dann konzentrieren. Bei weitem nicht alles, was digital ist, muss mit einer „Ethik-Brille“ betrachtet werden. Oft besteht die größte Tugend in einer guten Funktionalität. Und auch bei den Managementprozessen fängt man nicht bei Null an:

In der Praxis dockt sich CDR häufig an etablierte Prozesse des Nachhaltigkeits- oder Compliance-Managements an, bzw. es sind Synergien auf persönlichem oder organisatorischem Level möglich.

Wenn die Grundlagen erst einmal gelegt sind, können und sollten Unternehmen sich sukzessive weiterentwickeln. In der CDR-Initiative sprechen wir von einer gemeinsamen Lernreise, bei der wir Unternehmen gerne zur Seite stehen. Und das lohnt sich: Das Vertrauen von Mitarbeitenden, Verbraucher:innen und Kooperationspartnern sowie die proaktive Umsetzung von Regulierungsmaßnahmen machen das Thema für jedes Unternehmen zu einem Erfolgsfaktor.  

Artikelbild: Artikelbild: kasto via Canva.com

Bild Dr. Frank Esselmann: concern GmbH