difue.de: Wir sprechen heute über das Thema New Work, also eine neue Art des Arbeitens. Was verstehst du unter diesem Begriff?

Paul Fenski: Das ist keine einfache Frage. Der Arbeitsphilosoph Frithjof Bergmann hat den Begriff New Work geprägt. Bergmann hat in den 1970er-Jahren unterschiedliche Arbeitskulturen untersucht und kam zu dem Schluss, dass die meisten Menschen mit ihrer Arbeit nicht zufrieden waren und auch keinen Sinn darin sahen. Deshalb forderte er eine neue Arbeitskultur der Freiheit und Selbstbestimmung. Darauf baut New Work noch heute: flexible Arbeitszeiten, Work-Life-Balance und die Möglichkeit, sein Potenzial zu entfalten.

difue.de: Was hat sich seit den Siebzigern getan?

Paul Fenski: Ich glaube, es hat sich nicht viel verändert. Dass Menschen in ihrer Arbeit keinen Sinn sehen, ist nicht nur ein Problem auf individueller Ebene, sondern auch auf der systemischen. Es gibt eine starke ökonomische Ungleichheit, die im Begriff ist, unsere Demokratie zu zerstören. Da müssen wir gegensteuern.

difue.de: Du arbeitest bei Neue Narrative, ihr habt euch als Magazin dem Thema New Work verschrieben. Wie genau sieht das aus?

Paul Fenski: Einerseits liefern wir Inhalte, mit denen Menschen Veränderung in ihre Organisation reintragen können. Andererseits versuchen wir selbst, Vorbild zu sein. Das äußert sich dann in ganz vielen Bereichen.

difue.de: Fangen wir bei euch an. Ihr seid ein komplettes Remote-Unternehmen, wie funktioniert das?

Paul Fenski: Unsere Meetings finden ausschließlich online statt – es sei denn, es treffen sich zwei, die gemeinsam im Coworking-Space sitzen. Außerdem benutzen wir den Messenger Slack, um uns schnell auszutauschen. Und mit einem Tool namens Notion sammeln wir alle Informationen, die wir für die Zusammenarbeit brauchen. Dort gibt es sehr viele Unterseiten, auf denen man Informationen für alle bereitstellen kann. Wir sind drei Kolleg:innen, die regelmäßig im Coworking-Space sind, und manchmal kommen welche dazu. Einige habe ich noch nie persönlich getroffen.

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difue.de: Bei Neue Narrative ist jeder und jede Chefredakteurin. Wie funktioniert das?

Paul Fenski: Es hört sich gut an, aber das stimmt auch nur so halb. Als Chefredakteur:in gibt es viele verschiedene Aufgaben, die man erfüllen muss: Man muss nach außen das Magazin repräsentieren, man muss die Mitarbeitenden führen, man muss organisieren, planen und dann die Stimmigkeit des Gesamtprodukts sicherstellen. Viele davon sind wiederkehrende Tätigkeiten, die wir kompetenzbasiert verteilen. Die Annahme, dass eine Person in allen Feldern die beste ist, ist einfach unrealistisch. Deshalb haben wir das aufgeteilt – und deswegen sitze ich zum Beispiel hier mit dir.

difue.de: Das heißt, ihr habt ganz konkrete Rollenprofile. Also erfüllt ihr alle Aufgaben, die anderswo von Chefredakteur:innen erledigt würden, aber auch ganz andere?

Paul Fenski: Genau. Das ist sehr wichtig, weil wir so die Aufgaben viel passgenauer verteilen müssen. Anstatt zu sagen, „das haben wir schon immer so gemacht“, schauen wir, wo die Stärken der jeweiligen Personen liegen. Das muss sich die Waage halten, dass Leute sich auch ausprobieren und wachsen können.

difue.de: Das macht sie auch produktiver, oder?

Paul Fenski: Ja, ich glaube schon, dass sie produktiver werden. Hinzu kommt: Die ganzen Routinetätigkeiten werden durch künstliche Intelligenz automatisiert. Damit kann man sich dann verstärkt auf die kreative Arbeit konzentrieren. ChatGPT und Co. können dazu beitragen, dass ich statt zwei Präsentationen zehn am Tag erstellen kann. Da stellt sich dann die Frage, ob das besser ist – aber ich denke schon, dass es produktiver ist.

difue.de: Ihr habt bei Neue Narrative meetingfreie Tage, wie genau sieht dann die Arbeitszeit aus? Könnte ich das komplett selbst bestimmen?

Paul Fenski: Ja, das ist komplett frei. Seitdem die Arbeitszeiterfassung in Deutschland gesetzlich Pflicht ist, haben wir eingeführt, dass wir uns in einer Software „ein- und ausstempeln“. Das entspricht aber eigentlich nicht unserem Verständnis von New Work, denn wenn jemand in kurzer Zeit besonders viel geschafft hat, soll die Person nicht noch zwei Stunden ihre Zeit absitzen.

difue.de: Wie laufen die Meetings bei euch ab?

Paul Fenski: Es gibt ein paar Regeln, an die wir uns halten. Eine Grundregel, die wichtig ist: Jedes Meeting hat ein Ziel. Alle Teilnehmenden sollten wissen, warum sie dort sitzen. Außerdem gibt es eine klare Rollenverteilung: Eine Person moderiert, eine führt Protokoll. Das allein hilft schon, mehr Struktur in Meetings zu etablieren.

Außerdem gibt es in jedem Meeting zwei Standardelemente, einen Check-in und einen Check-out. Zum Check-in fragen wir: „Wie bist du da?“ Die meisten antworten dann „gut“, aber es gibt auch den Raum, sich als Mensch zu zeigen, wenn man das möchte. Das Meeting endet dann mit der Check-out-Frage „Wie gehst du raus?“oder „Worauf freust du dich heute noch?“oder auch „Was hat dir am Meeting gut gefallen?“. Wenn du zum Beispiel das Meeting moderierst und das Gefühl hattest, dass das Meeting etwas chaotisch lief, dann kannst du nach Verbesserungsvorschlägen fragen.

Wenn es um New Work geht, würde ich nicht direkt mit digitalen Tools anfangen, sondern eher bei den Meetings ansetzen. Viele nehmen sie als störend und zeitraubend wahr.

Paul Fenski von Neue Narrative

difue.de: Du beschäftigst dich viel mit Case Studies. Kannst du mir von einer erzählen, die dich besonders beschäftigt hat und warum?

Paul Fenski: Für die vergangene Ausgabe von Neue Narrative habe ich mit komoot gesprochen. Das ist eine Routenplaner-App, eine Art soziales Netz für Outdoor-Aktivitäten. Komoot ist in den letzten fünf Jahren stark gewachsen, haben aber seitdem auch kein Büro mehr. Das Unternehmen saß damals in Potsdam und hatte Schwierigkeiten, Programmierer:innen zu finden. Als sie anfingen, in den USA zu rekrutieren, haben sie vieles hinterfragt: Warum brauchen wir überhaupt noch ein Büro? Warum müssen wir hier alle zusammen in Potsdam sitzen?

Deswegen hat komoot über die Jahre ein Onboarding entwickelt, um das es auch in der Case Study geht. Einiges davon machen wir auch bei Neue Narrative sehr ähnlich. Innerhalb der ersten sechs Monate führt man viele Feedbackgespräche, es gibt eine Einführung in alle digitalen Tools, die wichtig sind. Außerdem gibt es eine fachliche Einarbeitung mit dem Team, die dann auch häufig persönlich stattfindet. Das Team einigt sich auf einen Ort und dann findet dort drei Tage lang die Einarbeitung statt und klärt Fragen wie: Wie wollen wir gemeinsam arbeiten?

Es gibt außerdem eine Ausstattung für das Homeoffice oder einen Platz im Coworking-Space. Es ist wichtig, dass alle gut ausgestattet sind, wenn sie von zu Hause aus arbeiten. Und es gibt kleine virtuelle Kaffeepausen, damit man mit allen anderen auch informell gesprochen hat. Ganz viele Remote-Unternehmen haben die Erfahrung gemacht, dass es ohne persönliche Treffen nicht geht. Und dafür gibt es dann diese Gatherings, wie sie bei komoot heißen. Wir nennen das Retreat

difue.de: Was macht ihr bei diesen Retreats, wie sieht das aus?

Paul Fenski: Bei komoot ist es so, dass sie auch richtig reisen, weil es zu dem Unternehmen passt, aber sie haben z. B. Workshops oder Strategietreffen. Das machen wir auch. Unser People-Lead Vilma sagte mal, dass wir mindestens 50 Prozent Spaß haben wollen, deshalb gab es neben Workshops auch Kennenlernspiele und andere Spiele. Bei unserem letzten Retreat haben wir uns das Thema ökonomische Ungleichheit vorgenommen und geschaut, wie wir das im Magazin aufarbeiten können.

difue.de: Wir haben im Verein Projekte, die kleine und mittelgroße Unternehmen bei der Digitalisierung unterstützen. Hast du Ideen oder auch Erfahrungen, wie KMUs, die bislang noch keine Berührungspunkte mit New Work hatten, damit anfangen können?

Paul Fenski: Wenn es um New Work geht, würde ich nicht direkt mit digitalen Tools anfangen, sondern eher bei den Meetings ansetzen. Viele nehmen sie als störend und zeitraubend wahr. Die Meeting-Elemente, die ich eben beschrieben habe, könnten schon helfen: klare Strukturen, eine Moderation, jemand protokolliert.

Ein anderer Punkt, an dem man ansetzen würde, wären Rollen. Eine Rolle umfasst wiederkehrende Tätigkeiten. Diese Tätigkeiten sammeln wir und clustern sie dann in einem zweiten Schritt zu Rollen. Im dritten Schritt prüfen wir dann: Welchen Zweck hat diese Rolle, warum machen wir das? So ergibt sich ein klares Bild und man kann einfacher neue Aufgaben übernehmen oder abgeben. Wenn zum Beispiel ich ein Problem sehe, dann aber merke, oh, die Kollegin, mit der ich das zusammen mache, die macht das viel besser – dann würde ich vorschlagen, dass sie diese Rolle übernimmt.

difue.de: Und sie dafür vielleicht was abgibt, was du dann besser kannst.

Paul Fenski: Genau. Und das pendelt sich mit der Zeit ein. Das muss nicht am Anfang perfekt sein, aber mit der Zeit kann man sich dann ein Rollenprofil zusammenstellen, das zu den eigenen Stärken und Vorlieben besonders gut passt.

difue.de: Ich fasse zusammen: Um mehr New-Work-Ansätze zu implementieren, sollte man mit der Meetingstruktur anfangen und sich dann an die Rollenbeschreibungen machen.

Paul Fenski: Genau! Die digitalen Tools, die man dann einsetzen kann, sind Hilfsmittel, die man vor allem in der digitalen Zusammenarbeit in Remote-Unternehmen braucht. Aber auch in KMUs, die nicht remote arbeiten, kann man solche Werkzeuge gut gebrauchen: Man braucht einen Ort, an dem man Informationen gesammelt bereitstellt. Eine zentrale Plattform kann da sehr helfen.

difue.de: Paul, vielen Dank, dass du heute da warst und uns zum Thema Neues Arbeiten ganz viel erzählt hast.

Paul Fenski: Vielen Dank!